Nachrichten und Meldungen von memetischen Synchronisationsleistungen
Jen Schradie untersucht die Soziologie der politischen Partizipation im Netz und stellte in vergangene Studien ein klassenbasiertes Ungleichgewicht fest, nach dem vor allem besser situierte Menschen in mit gute Netz-Anbindungen zur Teilnahme an politischen Debatten im Netz tendieren, während es ärmeren Bevölkerungsschichten sowohl an Zeit, Skills, Möglichkeiten und Organisation mangelt, um am öffentlichen Diskurs teilzunehmen.
In ihrem neuen Buch The Revolution That Wasn’t: How Digital Activism Favors Conservatives beschreibt sie nun ein nur scheinbar gegensätzliches Phänomen. Laut ihrer als Buch veröffentlichten Studie The Revolution That Wasn’t: How Digital Activism Favors Conservatives (Preview auf Google Books) sind es vor allem streng hierarchisch aufgestellte Organisationen, die erfolgreichen digitalen Aktivismus betreiben. Also konservative Gruppen, deren Populismus man heutzutage eher mit Arbeitern und ärmeren Bevölkerungsteilen verbindet, als mit gut situierten und eher urbanen, netz-affinen Schichten.
– Research shows hierarchical, conservative groups are more likely to use the internet as a platform, even though it’s commonly thought of as a space for leftist activism.
– It feels counterintuitive because the original rise of the internet coincided with the ethos of toppling of top-down structures—the internet rose as the Berlin Wall fell, says sociologist Jen Schradie.
– Despite the strong belief that the internet is horizontal, these hierarchical systems achieve high levels of online participation.
In ihrer Untersuchung von Arbeiterbewegungen in North Carolina stellte sie fest, dass die Organisationsform und die Inhalte dieser Bewegungen thematisch sehr viel breiter aufgestellt waren und sehr viel diversere Aktionen beinhalteten, was allerdings den Impact dieser Aktionen enorm schmälert. Im Ergebnis hämmern konservative Gruppen eine Message von Oben nach Unten kontinuierlich in die Köpfe der Leute, während sich progressive Akteure in vielen kleinen Aktionen verlieren, auch weil sie die Organisation ihrer Bewegungen offline bevorzugen.
Ich behaupte nun, dass hierarchisch aufgestellte Gruppen im Netz nicht nur erfolgreicher sind, sondern dass das Netz selbst sehr viel mehr Hierarchien erzeugt, als andere Organisationsformen. Am offensichtlichsten geschieht dies durch die Quantifizierungen digitaler Inhalte, also Like und Retweets, Followerzahlen und ähnliches. Diese Zahlen verleihen Autorität und geben Stimmen Gewicht.
Andere, nicht weniger relevante Faktoren sind der Production-Gap im Netz. 1% der User generieren 95% aller Inhalte, 4% kommentieren und der Rest ist schweigender Konsument (wie und ob sich diese Zahlen durch die Einfachheit der Teilnahme durch Social Media verschoben haben, weiß ich nicht). Eine Hierarchie im Netz kann sich per se nur aus den teilnehmenden 5% aller User speisen und die Publisher sind noch einmal weitaus mächtiger, als alle anderen. Damit meine ich alle Blogger, alle Journalisten, alle Kommentatoren. Hinzu kommen soziale Mechanismen wie Selbstdarstellung, Emotionalität („Sad-Fishing“), Virtue Signaling und so weiter. All diese Mechanismen florieren gerade Netz und erzeugen Hierarchien, die durch Quantifizierungen noch einmal intensiver erfahren werden.
Diese gesteigerte Hierarchiefähigkeit des Internets lässt sich überall beobachten, von den Netzaktivisten und ihrer handvoll hochgehaltener Helden, den Hackern des CCC und seinen scheingeheimen Troll-Hedonisten bis hin zu den Business-Bloggern und Politikern auf der Republica, die vor allem die Frisur vom Lobo sehen möchten. In all diesen Gruppierungen haben sich strenge Hierarchien herausgebildet, die dem ursprünglich egalitären Gedanken des Internets entgegenstehen und einen Personenkult betreiben, den man so eigentlich eher von rechten Gruppierungen kennt.
Der Gedanke, dass progressive Gruppen strengere Hierarchien entwickeln müssen, um im Netz erfolgreich zu sein, beunruhigt mich, es passt aber ebenfalls zum Personenkult unter Aktivisten von Frau Rakete bis Frau Neubauer, sehr wenige prominente Personen geben zumindest oberflächlich betrachtet die Richtung der Bewegungen vor. Hier scheint mir auch eine Verwandtschaft zur „Winner takes it all“-Theorie der Netz-Ökonomie vorzuliegen: Hierarchien im Netz sind genau wie Plattformen das Ergebnis sozialer Gravitation, während hierarchie-diversifizierende Mechanismen wie Kompetenz, Präzision oder Ausführlichkeit geschwächt werden. (Noch beunruhigender: Die These der netz-inhärenten gesteigerten Hierarchiebildung passt sehr genau zur These des neuen Digitalen Faschismus als Emergenz des freien Internets, beides resultiert aus veränderten und verstärkten gesellschaftlichen Synchronisationsfunktionen neuer Massenmedien. Alles nicht schön.)
Studien:
The Digital Activism Gap: How Class and Costs Shape Online Collective Action
Moral Monday Is More Than a Hashtag: The Strong Ties of Social Movement Emergence in the Digital Era
Amazon: The Revolution That Wasn’t: How Digital Activism Favors Conservatives
This surprising study of online political mobilization shows that money and organizational sophistication influence politics online as much as off, and casts doubt on the democratizing power of digital activism.
In this sharp-eyed and counterintuitive study, Jen Schradie shows how the web has become another weapon in the arsenal of the powerful. She zeroes in on workers rights advocacy in North Carolina and finds a case study with broad implications. North Carolinas hard-right turn in the early 2010s should have alerted political analysts to the webs antidemocratic potential: amid booming online organizing, one of the countrys most closely contested states elected the most conservative government in North Carolinas history.
The Revolution That Wasnt identifies the reasons behind this previously undiagnosed digital-activism gap. Large hierarchical political organizations with professional staff can amplify their digital impact, while horizontally organized volunteer groups tend to be less effective at translating online goodwill into meaningful action. Not only does technology fail to level the playing field, it tilts it further, so that only the most sophisticated and well-funded players can compete.
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Neue Studie zur bekannten Negativity Bias, laut der wir vor allem schlechten Nachrichten grundsätzlich mehr Aufmerksamkeit schenken. Diese Negativity Bias ist universell und wird auf der ganzen Welt beobachtet und diese Negativitäts-Verzerrung reicht sogar so weit, dass positiv besetzte Worte inhaltlich weniger Information transportieren, als negativ besetzte Begriffe und unsere Verzweiflung wird besondern spürbar in der Tatsache, dass wir zwar mehr positive Happy-Begriffe benutzen, negative Begriffe aber weitaus vielfältiger sind.
Der Grund dafür liegt in der Evolution des Menschen. Wenn wir als Affen eine Schlange im Gras sehen, davonrennen und andere warnen, überleben wir. Selbst wenn es keine Schlange war, sondern ein rumliegender Apfel. Würden wir als Affen nun eher Schlangen im Gras mit herumliegenden Äpfeln verwechseln, wären wir längst ausgestorben. Deshalb ist es für Affen gesünder, eine Menge Begriffe für die Bedrohungen durch Schlangen im Gras zu finden (und zwar auch „Nicht-Schlangen“), als für herumliegende Äpfel. Deshalb selektiert die Evolution richtige wie auch falsche Wahrnehmungen von Gefahren, denn das Gegenteil führt zum Tod der Spezies. Und deshalb gibt es vielfältigere Begriffe für Negativität als Happy-Love-Pink-Sweetie-Rainbowbubbles, die mehr Information transportiert.
Und nun hat man diese Negativitäts-Verzerrung der Realität für die Selektion von Nachrichten untersucht mit dem Ergebnis, dass vor allem konservative Männer ihre Aufmerksamkeit auf schlechte Nachrichten lenken. Darüber hinaus korrelieren vor allem das mit Konservatismus assoziierte psychologische Merkmal der Conscientiousness (Gewissenhaftigkeit) mit „Negativity Bias In News Selection“, während gleichzeitig progressiv assoziierte Merkmale wie Offenheit mit weniger Negativitäts-Verzerrung korrelieren.
Auf der eher progressiven Seite korreliert die Negativitäts-Verzerrung mit politischem Interesse. Aktivisten haben also eine höhere Negativity Bias als weniger politisch interessierte Menschen. Ich interpretiere diesen Teil der Studie so, dass die Eigenschaft der Offenheit bei progressiven, politisch interessierten Menschen diverse „Sorgen um den Zustand der Welt“ auslöst und damit die Negativitäts-Verzerrung erhöht.
Spannende Studie, grade für Medienmacher und Journalisten: Individual-level differences in negativity biases in news selection.
Women show significantly lower levels of NBNS than men, and both political interest and con- servative political ideology are associated with higher NBNS. There also is a significant interaction between political interest and left-right ideology. Fig. 2 illustrates this interaction (i.e., the estimated impact of ideology on NBNS conditional on low versus high political interest). Amongst those who identify as being at the far right of the ideological spectrum, political interest makes little difference – NBNS is relatively high in general. Moving to the left of the ideological scale suggests a difference, however. Those who are more liberal-leaning with high political interest do not decrease in NBNS at the same rate as those with low political interest. Put differently, amongst those on the left of the ideological scale, political interest increases negativity bias in news selection and amongst those on the right, NBNS is comparatively high regardless of interest. This is line with work suggesting a connection between right-wing ideology and other negativity biases (e.g., Hibbing et al., 2014). […]
There is reason to expect that individual-level variation in negativity biases has an important and durable impact on individuals’ news media use, as well as on a range of economic and political attitudes. This paper has taken a first step toward measuring a negativity bias in news selection. We find that while on balance there is a bias towards negativity, there are individual-level differences. These differences appear to be partly pre-dispositional; that is, they appear to be durable, demonstrated both by correlations with demographic, partisan and personality measures, and by within-respondent correlations across time. We also find that these individual-level differences are correlated with a variety of economic and political attitudes.
We take these results as evidence of the potential importance of negativity biases in news selection (NBNS) in understanding attitudes about governments, the economy, and other politically and economic- ally-relevant attitudes. We also suspect that NBNS moderates the impact of news content – those who are high in NBNS may select into a rather different information stream than those who are low in NBNS, which could subsequently shape their political perspectives.
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DC Comics hat ein Poster mit Batwoman und Molotov-Cocktail von seiner Instagram-Seite gelöscht, weil irgendwelche Leute in China meinen, es sei eine Unterstützung der Proteste in Hong Kong. Absurderweise handelt es sich um ein Variant Cover und Werbung für das neuen Comic von Frank Miller, der mit The Dark Knight Returns eine der ikonischsten Manifestationen des Batman-Characters erschuf und ein mindestens andeutungsweise reaktionäres Comic, in dem der dunkle Ritter mit Aufständischen Selbstjustiz und politischen Terror verbreitet, Dinge die der chinesischen Regierung nicht fremd sind.
DC Comics is under fire from Chinese fans over a Batman comic book poster that they perceive to be supportive of the ongoing Hong Kong protests. DC shared artwork this week depicting Batman throwing a Molotov cocktail. This stark imagery is superimposed over bright pink text that reads: “The future is young.”
The poster is being used to promote the December 11 release of DC Black Label comic book Dark Knight Returns: The Golden Child, written by popular comic scribe Frank Miller. Black Label is a DC Comics imprint featuring titles for more mature audiences.
Willkommen in der vollendeten digitalen Postmoderne, in der jeder Mensch jedes Batman-Pic nach eigener Perspektive auslegt, in einem sozialen Internet, in dem der mediale Veröffentlichungsprozess radikal demokratisiert und auf einen Klick geschrumpft wurde. Ganz selbstverständlich wird nun ein Motiv mit Batwoman mit Molotov-Cocktail im Hong Kong während der Proteste als Unterstützung der Aufstände gelesen, denn das Bild ist für jeden Batman-Fan dort eine symbolische Repräsentation – ganz egal ob DC Comics das beabsichtigt hatte oder nicht.
Die Vorführung eines pro-revolutionären mexikanischen Films aus den 60s in einem Underground-Kino in Berlin kann auf Twitter zu einer symbolischen Unterstützung für die Proteste in Chile werden, schlichtweg aus Gründen der Sichtbarkeit und Geschwindigkeit. Es genügt ein Retweet mit Hashtag. DC Comics kann in dieser Welt fünfhundert mal verlautbaren lassen, dieses habe Poster nichts mit diesem Protest in Hong Kong zu tun, es sei nur eine symbolische Repräsentation des Akts des Protests an sich, es habe nichts mit realen Ereignissen zu tun und sei reine Fiktion. All das ist irrelevant, denn das Bild repräsentiert ganz real und ganz natürlich gleichzeitig Aufstände in Chile, im Iran, in Hong Kong und bei den Klimaprotesten in den Köpfen der dortigen Teilnehmer. DC Comics’ Erklärungsversuche sind nicht relevant, denn die Freiheit zur globalen Interpretation macht das Bild immer überall zur gleichermaßen feindlichen wie ermunternden Aussage für viele.
Und genau das passiert mich sämtlicher Sprache, allen Aussagen und jeder Meme. Das Netz als Erfüllungsgehilfe des Postmodernismus zerstört die Gemeinsamkeit symbolischer Repräsentation durch Bedeutungs-Überlastung. Das Bild eines Aufstandes, das sämtliche aktuellen Proteste symbolisiert, wird zum billigen Stock Photo, es repräsentiert alles und damit nichts. Die Kategorien der Sprache lösen sich auf und wir stehen vor den Trümmern der Bedeutung selbst. Das neue daran ist nicht, dass jeder und alle nur das lesen, was ihre eigene kontemporäre Identität betrifft, sondern dass alle anderen nun daran Teil haben können.
Das politische Analyse-Tool der Intersektionalität erschafft in dieser digitalen Postmoderne eine Hyperinterpretation der Symbolik: die Analyse aller Aussagen aus allen Perspektiven vermint den Sprachraum, jedes Wort wird Waffe und Liebeserklärung gleichermaßen – ein Batman-Variant-Cover wird politisches Symbol für Aufstand, Unterdrückung, Freiheit und überhaupt alles.
In dieser Welt lesen Leute mit Pickeln am Arsch in einem Batman-Poster den Aufruf zum Aufstand gegen Dermatologen, während die Chilenen die Symbolik des Bildes für sich beanspruchen, Feministinnen sehen in dem Batwoman-Bild einen Protest gegen das Patriachat und in Bolivien tragen sie nun Batman-Outfits gegen ein autoritäres Regime – es wäre fast lustig, wenn es nicht so brandgefährlich wäre. Das Internet und sein technologisch forciertes soziales Paradigma der hierarchiefreien Selbstorganisation offenbart sich als emotional manipulierbares, hysterisches Geschwätz in Hyperspeed, anfällig für Schlangenölverkäufer und Tyrannen auf aller Welt.
Das postmoderne Projekt der Überwindung der Mythen bedeutet in seiner realen digitalen Manifestation die Atomisierung unserer Wirklichkeit in 8 Milliarden Welten – allesamt valide, echt und relevant. Das Internet ist verwirklichte postmoderne Utopie und sie ist ein Alptraum.
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Genauso ätzende wie zutreffende Kritik an den neuen Eliten von Alexander Grau in der NZZ. Der Text baut auf dessen Buch Hypermoral auf, in dem er diese Moralisierung als emotionalisierendes Werkzeug im Kampf um die Meinungshoheit identifiziert, was in diesem neuen geilen Internet und seinen emotional synchronisierenden scheinsozialen Medien auch ganz hervorragend funktioniert.
Da die neuen Eliten sich vor allem als progressiv, als Avantgarde definieren, ist die von ihnen proklamierte Moral zunächst auf eine Überwindung des Überlieferten und Gegebenen ausgerichtet. Man versteht sich als Vorkämpfer des Modernismus, als Reformkraft, die die Menschheit in eine bessere Zukunft führt. Man gibt sich progressiv und feiert die Überwindung des Gestern. Überlieferte Vorstellungen und tradierte Wertehaltungen gelten als verdächtig. Sie gilt es hinter sich zu lassen.
Zum Habitus der neuen Eliten gehört daher konsequenterweise eine Beschäftigung in sogenannten Zukunftsbranchen. Man arbeitet im IT-Bereich, im Kultur- oder Medienbetrieb, vielleicht aber auch bei einem weltweit agierenden Konzern oder einer internationalen Organisation. Und da man sich in diesem Umfeld ausschliesslich unter seinesgleichen bewegt, vereinigen sich Kosmopolitentum und Provinzialität, Weltoffenheit und Borniertheit zu einer historisch singulären Ideologie.
Elite zu sein, wird zu einer Gesinnungs- und Lifestylefrage, wobei sich Gesinnung und Lifestyle unmittelbar miteinander verschränken. Nationale Kulturen hält man per se für überholt, Grenzen jeder Art für Ausdruck von Borniertheit, man ist polyglott und bastelt sich seinen individuellen Lebensstil aus den Versatzstücken des globalen kulturellen Angebots: Man liebt französische Filme, entspannt bei indischem Yoga, geniesst italienische Küche und bevorzugt skandinavisches Design. […] Vor allem aber fühlt man sich als Teil einer neuen, globalen Kultur und Avantgarde, besagter Hyperkultur, die in Berlin und Zürich ebenso zu Hause ist wie in Sydney. Man definiert sich nicht über lokale Verortung, sondern über die sozialen Netzwerke der Gleichgesinnten.
Diese Hyperkultur ist in ihrer Radikalität neu. Allerdings kündigte sie sich seit zweihundert Jahren an, als die «schrecklichen Kinder der Neuzeit» (Peter Sloterdijk) zum Massenphänomen wurden. Denn die Moderne ist die erste Epoche, deren Identität darin besteht, sich permanent selbst überwinden zu wollen. Die Moderne will modern sein. Und modern sein bedeutet, fortschrittlich zu sein. Exponent dieser Zerschlagung des Vorhandenen und Überlieferten war über zwei Jahrhunderte das Bürgertum. Und es ist nur konsequent, dass am Ende der Moderne die Selbstzerstörung des Bürgertums im Namen der Bürgerlichkeit steht.
Wikipedia zum Buch Hypermoral – Die neue Lust an der Empörung: „In seinem Buch Hypermoral setzt sich Grau kritisch mit dem Phänomen auseinander, dass Moral bzw. moralische Begründungen des politischen und gesellschaftlichen Handelns in modernen westlichen Gesellschaften eine nie dagewesene Relevanz und Reputation genießen. Moral habe eine meinungsbildende Monopolstellung bekommen, andere rationale Erwägungen (technische, wissenschaftliche, ökonomische) würden diskreditiert (Hypermoral. S. 10). Dafür macht Grau vier historische Entwicklungen verantwortlich: die Säkularisierung, die Individualisierung, das Entstehen einer Massengesellschaft und die Massenmedien. Die Moralisierung quasi aller gesellschaftlichen und politischen Fragen diene im Kern der Emotionalisierung und damit der Massenmobilisierung im Kampf um die öffentliche Meinung.“
Diese Moralisierung wird laut Grau von der neuen kreativen, kosmopolitischen, globalen Klasse vorangetrieben, was angesichts neuer Studien so nicht haltbar ist: Vor allem konservative Männer erliegen der Empörung und zeigen in ihrer täglichen Auswahl von Meldungen eine Neigung zur Negativität („negativity biases in news selection“) und damit auch zur Empörung und Wut. Im eher linken Spektrum zeigt sich diese Verzerrung vor allem bei politisch engagierten Menschen, also vor allem bei Aktivisten auf Twitter. Man könnte auch sagen: Die Moralisierung und dazugehörende Empörung werden von konservativen Männern und linken Aktivisten gleichermaßen betrieben und beide steigern sich in einer Empörungsspirale in immer absurdere Extreme.
Dennoch ist die Kritik Alexander Graus der globalen kreativen (und oft linksidentitären) Klasse zutreffend, genau eine solche schonungslose Analyse würde ich mir für konservative Berufsaufreger ebenfalls wünschen und das Bild der neuen Eliten ist ohne das Bild der alten Eliten nicht vollständig, die Gelder in Fossile Brennstoffe oder rechte Organisationen, denn die Moralisierung mag ein Werkzeug der Emotionalisierung in Massenmedien sein, sie ist aber ebenso ein althergebrachter Protest gegen Schattenwirtschaft, Korruption und menschenverachtende Politik. Ein Aspekt den Grau leider außen vor lässt.
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